Im fliegenden Labor

Mittels Aeroradiometrie lässt sich Radioaktivität am Boden aus der Luft aufspüren. Die Nationale Alarmzentrale NAZ führt jährlich mit Unterstützung des PSI Messflüge durch, um die radiologische Lage der Schweiz zu bestimmen.

Die Operatoren können vom Helikopter aus die Messergebnisse direkt verfolgen. Wenn nötig, informieren sie die Piloten, um eine bestimmte Stelle noch einmal zu überfliegen. © Paul Scherrer Institut PSI/Markus Fischer

Die Rotorblätter des Helikopters vibrieren und heben das fünf Tonnen schwere Ungetüm scheinbar mühelos in die Luft –im Super Puma raunt’s und riecht’s, als befände man sich im Inneren eines gigantischen Rasenmähers. Mit hundert Kilometern pro Stunde geht es im Eiltempo vom Startplatz des Flughafens Dübendorf hoch über die Stadt Zürich, der Limmat entlang Richtung Wasserschloss, dem eigentlichen Messgebiet, wo die radiologische Lage des PSI, des Schweizer Zwischenlagers für radioaktive Abfälle ZWILAG und den beiden Kernkraftwerken Leibstadt und Beznau bestimmt werden soll.

Um die Messdaten möglichst genau zu bestimmen, muss der Helikopter auf neunzig Metern Flughöhe gehalten werden – in der Ladebucht an seinem Bauch befindet sich nämlich das Messsystem, mit dessen Hilfe die Radioaktivität der Erdoberfläche detektiert wird. Das konstante Halten der Höhe ist sowohl für die Piloten als auch für die Crew eine Herausforderung, denn durch die kontinuierliche Veränderung des Untergrunds spürt man jeden Hügel in der Landschaft. Und so steigt der Helikopter steil an der Krete des Villiger Geissbergs empor – die Crew drückt es in die Sitze – um auf der anderen Seite ebenso steil wieder herunterzufallen. Ein Gefühl von Achterbahn fahren – und die anfangs verteilten Brechbeutel ergeben nun plötzlich Sinn.

Der Helikopter folgt genau vorgegebenen parallelen Bahnen. Mit einer Sicht von dreihundert Metern Durchmesser und einem Abstand von zweihundertfünfzig Metern zwischen den benachbarten Bahnen lässt sich so der komplette Untergrund abscannen. Die Route kann man auch auf den Bildschirmen der beiden Operatoren im Helikopter live verfolgen. Dabei geschieht eine erste Auswertung in diesem fliegenden Labor in Echtzeit. Und anhand der farbigen Flächen auf dem Bildschirm kann man den radiologischen Untergrund unmittelbar erkennen: Blau und grün entsprechen etwa vierzig bis hundert Nanosievert pro Stunde – Sievert ist die physikalische Einheit zur Quantifizierung der Strahlenexposition– alles im grünen (oder eben im blauen) Bereich.

Das Problem mit dem Regen 

Drei Stunden früher in einem schlichten Konferenzzimmer auf dem Militärflughafen Dübendorf: Übungsleiterin Cristina Poretti präsentiert die heutige Mission und zeigt das Messgebiet; eine Landkarte mit darüber gezogenen roten, parallelen Linien. Diese Linien gilt es zu überfliegen. «Das Wetter sieht jedoch schlecht aus. Wir erwarten gegen Abend eine Regenfront von Osten»: Die gebürtige Tessinerin verweist auf die winzigen Ziffern von eins bis vier oberhalb der roten Linien. «Ich habe das Gebiet in vier verschiedene Prioritätszonen unterteilt: Zone 1 und 2 sollten wir heute schaffen. Zone 3 und 4 müssen wir eventuell auf den nächsten Messtermin verschieben.»

Ihre Zuhörer, uniformierte Berufsmilitärs, Milizionäre, zivile NAZ-Beamte und PSI-Physiker Alberto Stabilini lauschen aufmerksam. «Gibt es Anmerkungen vonseiten der Piloten?» Keine Anmerkungen. Cristina Poretti leitet die Übung – in Gedanken geht sie noch einmal den Ablauf durch. In einem radiologischen Ernstfall wäre sie für eine reibungslose Organisation zuständig.

Das hiesse: Planung der Mission, Zusammenarbeit mit den Partnern wie dem Militär und den Kantonen, Lokalisierung des betroffenen Gebiets und Planung und Priorisierung von weiteren Messungen am Boden – all das liefe über ihre Abteilung; weshalb die jährlichen Messflüge auch gleichzeitig als Training dienen.

Die Piloten und Loadmaster sowie die Infrastruktur am Militärflughafen Dübendorf werden von der Armee zur Verfügung gestellt. Als Operatoren werden WK-Soldaten mit einer besonderen Ausbildung und verlängerter Dienstzeit aufgeboten – Milizionäre, die organisatorisch der NAZ untergeordnet sind. «Diese Leute bringen meist einen naturwissenschaftlichen Hintergrund mit und fungieren während des Flugs als Spezialisten – dadurch, dass alles in Echtzeit passiert, können sie direkt in den Messprozess eingreifen und bei Bedarf die Piloten instruieren, beispielsweise einen bestimmten Punkt erneut zu überfliegen.»

Und was hat es nun mit dem Regen auf sich? «Der Regen wäscht Radonfolgeprodukte aus der Luft», erklärt Alberto Stabilini. Radon ist ein im Boden entstehendes, natürliches, radioaktives Edelgas, das als Teil der Uranzerfallsreihe entsteht. Gelangt das Radongas in die Atmosphäre, zerfällt es weiter – es entstehen unter anderem Wismut und Blei. Diese sogenannten Radonfolgeprodukte sind ebenfalls radioaktiv und schweben in der Luft. Bei Regen werden sie aus der Luft gewaschen und sammeln sich am Boden. «Dies führt in der Auswertung zu einer Überschätzung der Uranaktivitätskonzentration im Boden.»

Cristina Poretti, Leiterin der Aeroradiometrie der NAZ, und der PSI-Physiker Alberto Stabilini besprechen kurz vor Abflug noch einmal die Messroute. © Paul Scherrer Institut PSI/Markus Fischer
Der Super Puma Helikopter ist startbereit. © Paul Scherrer Institut PSI/Markus Fischer
Scheinbar mühelos heben die Piloten das fünf Tonnen schwere Ungetüm in die Luft. © Paul Scherrer Institut PSI/Markus Fischer
Schloss Lenzburg aus 90 Metern Höhe bestaunen: Mit hundert Kilometern pro Stunde geht es im Eiltempo vom Startplatz des Flughafens Dübendorf Richtung Wasserschloss, dem eigentlichen Messgebiet. © Paul Scherrer Institut PSI/Markus Fischer
Dank modernster Detektoren und ausgeklügelter Algorithmen kann die radiologische Lage am Boden präzise und in Echtzeit kartiert werden. © Paul Scherrer Institut PSI/Markus Fischer
Zum heutigen Messgebiet gehört auch das Schweizer Zwischenlager für radioaktive Abfälle ZWILAG in Würenlingen an der Aare – im Hintergrund ist der PSI-Campus erkennbar. © Paul Scherrer Institut PSI/Markus Fischer
Die beiden Operatoren fungieren während des Flugs als Spezialisten – dadurch, dass alles in Echtzeit passiert, können sie direkt in den Messprozess eingreifen und bei Bedarf die Piloten instruieren, beispielsweise einen bestimmten Punkt erneut zu überfliegen. © Paul Scherrer Institut PSI/Markus Fischer
Auch das PSI gehört zum Messgebiet und wird überflogen. © Paul Scherrer Institut PSI/Markus Fischer
Der Loadmaster (links) ist für die Sicherheit der Crew verantwortlich und verteilt auch mal Brechtüten, falls es den Journalisten an Board durch den Achterbahnflug übel werden sollte. © Paul Scherrer Institut PSI/Markus Fischer
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Schnell und grossflächig 

1975 war die Schweizer Aeroradiometrie noch rein militärischer Natur und das Vorgehen bestand darin, dass sich ein Soldat mit Geigerzähler aus dem Helikopter lehnte und dabei die Strahlung detektierte. Im Jahr 1986 kam die Methode dann erstmals in einem Projekt der Schweizerischen Geophysikalischen Kommission zur geologischen Kartierung der Zentralmassive Aar und Gotthard zum Einsatz. Im Rahmen zweier Dissertationen an der ETH Zürich wurde daraufhin ein Algorithmus zur Datenauswertung entwickelt. Ab 1994 übernahm die NAZ die Leitung. Erstmals wurde dabei mit einem Super Puma der Schweizer Armee geflogen, mit welchem auch unter schwierigen Wetterbedingungen und bei Nacht Einsätze durchgeführt werden können.

Im Jahr 2003 wurde die wissenschaftliche Expertise von der ETH ans PSI transferiert, in Kooperation mit dem ENSI. 2018 wurde schliesslich das neuartige Messsystem in Betrieb genommen. Seitdem stehen in der Schweiz an zwei Standorten vier hochsensitive Detektoren mit dazugehöriger Elektronik und Software zur Verfügung. Ein solches System kann innerhalb weniger Stunden in den Super Puma eingebaut werden. Alle Daten vom Helikopter wie GPS, Flughöhe und Geschwindigkeit fliessen dabei in die Auswertung ein. Der Helikopter verschmilzt quasi mit dem Detektor zu einem einzigen Messgerät, das dank der zeitgleichen Auswertung der Daten zugleich als Labor dient.

Dies erlaubt es, ohne Zwischenlandung innerhalb von drei Stunden eine Fläche von bis zu hundert Quadratkilometern zu messen und die radiologische Lage dieses Gebiets in Echtzeit zu bestimmen. Zusammen mit einem schweizweit engmaschigen Netz aus dauerhaften Messsonden am Boden sowie weiteren Messequipen und Fahrzeugen leistet die Aeroradiometrie einen wichtigen Beitrag zum Bevölkerungsschutz. 

Die Details herauskitzeln

Während des Flugs bleibt Alberto Stabilini am Boden und arbeitet mit seinem Laptop im Hintergrund. Seine Funktion ist es, einzugreifen, wenn ein Messergebnis unklar ist und seine Expertenmeinung gefragt wird. «Bei neunzig Metern über dem Boden kommt nur wenig Strahlung im Detektor an», erklärt der Physiker. «Da kann es auch mal vorkommen, dass ein Signal nicht eindeutig einer Quelle zugeordnet werden kann.»

Für die NAZ muss die Datenauswertung instantan erfolgen, denn auf ihrer Grundlage muss schliesslich die Entscheidung getroffen werden, ob von einer radiologischen Quelle eine Gefahr für die Bevölkerung ausgeht und falls ja, welche nächsten Schritte eingeleitet werden müssen. «Dafür genügt das System vollkommen», so Stabilini. «Doch manchmal muss man auch etwas genauer hinschauen.»

Schaffen es die Operatoren mit ihren Computern nicht, eine bestimmte Anomalie einer Quelle zuzuordnen oder benötigen sie eine Zweitmeinung, schicken sie den Datensatz an Stabilini, der ihn mit einer speziellen Software noch einmal überprüft. «Dieser Code wurde von meinem Vorgänger Gernot Butterweck entwickelt», erklärt Stabilini. «Darin bündelt sich seine mehr als 25-jährige Erfahrung mit Feldmessungen. Denn Geschwindigkeit, Flughöhe, Geometrie der Strahlung sowie auch das Gelände können das Signal beeinflussen – mit dieser Software schaffen wir es, das Maximum an Information aus den Rohdaten herauszukitzeln.»

Der heutige Flug blieb jedoch ohne Ungereimtheiten. In drei Stunden schaffte es das Team, hundertfünfzehn Quadratkilometer zu kartieren. «Ein gelungener Arbeitstag», freut sich Stabilini.