Neues Material mit magnetischem Formgedächtnis

Forschende des Paul Scherrer Instituts PSI und der ETH Zürich haben ein neues Material entwickelt, dessen Formgedächtnis durch Magnetismus aktiviert wird. Es handelt sich dabei um einen Verbundstoff aus zwei Komponenten. Dieser behält eine einmal vorgegebene Form bei, wenn er in ein Magnetfeld gerät. Das Besondere an dem neuen Material: Anders als bisherige formerinnernde Stoffe besteht es aus einem Polymer und darin eingelagerten Tröpfchen, einer sogenannten magnetorheologischen Flüssigkeit. Anwendungsgebiete für diese neue Art von Verbundstoffen sind beispielsweise Medizin, Raumfahrt, Elektronik oder Robotik. Ihre Ergebnisse veröffentlichen die Forschenden jetzt im Fachmagazin Advanced Materials.

Laura Heyderman (links), Paolo Testa (Mitte) und Eric Dufresne mit einem Streifen des neuen Materials im Magnetfeld
(Foto: Paul Scherrer Institut/Mahir Dzambegovic)
Paolo Testa, Erstautor der Studie, mit einem Modell der prinzipiellen Struktur des formerinnernden Materials
(Foto: Paul Scherrer Institut/Mahir Dzambegovic)
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Es sieht aus wie ein Zaubertrick: Ein Magnet entfernt sich von einem schwarzen, verwundenen Band und dieses entspannt sich – ohne weitere Einwirkung (siehe Video). Was wie Magie aussieht, lässt sich mit Magnetismus erklären. Das schwarze Band besteht nämlich aus einem Verbundstoff aus zwei Komponenten: einem Polymer auf Silikonbasis und kleinen Tröpfchen aus Wasser und Glyzerin, in denen winzige Partikel aus Carbonyleisen schweben. Letztere sorgen für die magnetischen Eigenschaften des Materials und sein Formgedächtnis. Zwingt man den Verbundstoff mittels einer Pinzette in eine bestimmte Form und setzt ihn dann einem Magnetfeld aus, so behält er diese Form bei, selbst wenn man die Pinzette entfernt. Erst wenn man das Magnetfeld ebenfalls entfernt, nimmt das Material wieder seine ursprüngliche Form an.

Bislang bestehen vergleichbare Materialien aus einem Polymer und eingelagerten Metallpartikeln. Die Forschenden des PSI und der ETH Zürich fügten stattdessen die magnetischen Partikel mithilfe von Tröpfchen aus Wasser und Glyzerin in das Polymer. Dadurch erzeugten sie eine Dispersion, ähnlich wie sie von Milch bekannt ist. In Milch sind winzige Fetttröpfchen in einer wässrigen Lösung fein verteilt. Diese sind wesentlich für die weisse Färbung verantwortlich.

In dem neuen Material verteilen sich die Tröpfchen der Flüssigkeit mit den magnetischen Partikeln ähnlich fein. «Da es sich bei der im Polymer dispergierten magnetisch empfindlichen Phase um eine Flüssigkeit handelt, sind die Kräfte, die beim Anlegen eines Magnetfeldes erzeugt werden, wesentlich grösser als bisher bekannt», erklärt Laura Heyderman, Leiterin der Gruppe Mesoskopische Systeme am PSI und Professorin an der ETH Zürich. Wirkt ein Magnetfeld auf den Verbundstoff, versteift dieser. «Dieses neue Materialkonzept konnte nur durch die Zusammenarbeit von Gruppen mit Expertise aus zwei völlig unterschiedlichen Bereichen – magnetischen und weichen Materialien – entstehen», so Heyderman.

Das Video zeigt, wie das neue Material mittels Pinzette in eine Schleifenform gezwungen wird. Dann wird ein ringförmiger Magnet angehoben. Selbst wenn man die Pinzette entfernt, behält das Material in dem Magnetfeld seine Form bei. Erst wenn der Magnet wieder abgesenkt und damit das Magnetfeld entfernt wird, kehrt das Material in seine Ausgangsform zurück. © Paul Scherrer Institut - ETH Zürich/Paolo Testa

Formgedächtnis durch Ausrichtung am Magnetfeld

Die Forschenden untersuchten das neue Material unter anderem mithilfe der Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS. Mit den damit angefertigten röntgentomografischen Aufnahmen stellten sie fest, dass sich unter Einwirkung eines Magnetfeldes die Länge der Tröpfchen in dem Polymer vergrössert und sich die Carbonyleisen-Partikel in der Flüssigkeit zumindest teilweise entlang der magnetischen Feldlinien ausrichten. Beides führt dazu, dass sich die Steifigkeit des getesteten Materials bis auf das 30-Fache erhöht.

Dass das Formgedächtnis des neuen Materials durch Magnetfelder aktiviert wird, bietet neben der grösseren Kraftentfaltung einen weiteren Vorteil. Die meisten formerinnernden Stoffe reagieren auf Temperaturschwankungen. Bei Anwendungen in der Medizin tauchen dadurch zwei Probleme auf. Erstens schadet zu grosse Hitze den körpereigenen Zellen. Zweitens lässt sich eine gleichmässige Erwärmung eines formerinnernden Gegenstands nicht immer gewährleisten. Beide Nachteile umgeht das Anschalten des Formgedächtnisses per Magnetfeld.

Mechanisch aktive Materialien für Medizin und Robotik

«Mit unserem neuen Verbundstoff haben wir einen weiteren wichtigen Schritt hin zur Vereinfachung von Bauteilen in ganz verschiedenen Anwendungsgebieten wie der Medizin oder der Robotik gemacht», freut sich Paolo Testa, Materialwissenschaftler an der ETH Zürich und am PSI sowie Erstautor der Studie. «Unsere Arbeit dient daher als Ausgangspunkt für eine neue Klasse von mechanisch aktiven Materialien.»

Für formerinnernde Stoffe sind zahlreiche Anwendungen in Medizin, Raumfahrt, Elektronik oder Robotik denkbar. So könnten Katheder, die bei minimalinvasiven Operationen durch Blutgefässe zum Operationsort im Körper geschoben werden, ihre Steifigkeit verändern. Das bietet den Vorteil, dass sie nur dann fest werden müssen, wenn das benötigt wird, und sie deshalb – zum Beispiel beim Gleiten durch ein Blutgefäss – weniger Nebenwirkungen wie Thrombosen erzeugen. In der Raumfahrt sind formerinnernde Materialien als eine Art Reifen für Erkundungsfahrzeuge gefragt, die sich eigenständig aufblähen oder wieder zusammenfalten. In der Elektronik dienen weiche Funktionsmaterialien als flexible Strom- oder Datenleitungen, beispielsweise in sogenannten Wearables, also Geräten, die man in der Kleidung oder direkt am Körper trägt. Formgedächtnis eröffnet auch neue Möglichkeiten, beispielsweise können formerinnernde Materialien in der Robotik mechanische Bewegungen ohne einen Motor ausführen.

Ihre Ergebnisse veröffentlichen die Forschenden nun im Fachmagazin Advanced Materials.

Text: Paul Scherrer Institut/Sebastian Jutzi


Über das PSI

Das Paul Scherrer Institut PSI entwickelt, baut und betreibt grosse und komplexe Forschungsanlagen und stellt sie der nationalen und internationalen Forschungsgemeinde zur Verfügung. Eigene Forschungsschwerpunkte sind Materie und Material, Energie und Umwelt sowie Mensch und Gesundheit. Die Ausbildung von jungen Menschen ist ein zentrales Anliegen des PSI. Deshalb sind etwa ein Viertel unserer Mitarbeitenden Postdoktorierende, Doktorierende oder Lernende. Insgesamt beschäftigt das PSI 2100 Mitarbeitende, das damit das grösste Forschungsinstitut der Schweiz ist. Das Jahresbudget beträgt rund CHF 407 Mio. Das PSI ist Teil des ETH-Bereichs, dem auch die ETH Zürich und die ETH Lausanne angehören sowie die Forschungsinstitute Eawag, Empa und WSL. (Stand 05/2019)

Kontakt/Ansprechpartner

Prof. Dr. Laura Heyderman
Forschungsgruppe Mesoskopische Systeme
Paul Scherrer Institut, Forschungsstrasse 111, 5232 Villigen PSI, Schweiz
Telefon: +41 56 310 26 13, E-Mail: laura.heyderman@psi.ch [Englisch, Deutsch, Französisch]

Paolo Testa
Labor für Mesoskopische Systeme, Departement Materialwissenschaft
ETH Zürich, 8093 Zürich, Schweiz
Telefon: +41 44 632 37 62, E-Mail: paolo.testa@mat.ethz.ch [Englisch, Italienisch]

Prof. Dr. Eric. R. Dufresne
Labor Weiche und Lebende Materialien, Departement Materialwissenschaft
ETH Zürich, 8093 Zürich, Schweiz
Telefon: +41 44 633 44 84, E-Mail: eric.dufresne@mat.ethz.ch [Englisch]

Originalveröffentlichung

Magnetically Addressable Shape-memory and Stiffening in a Composite Elastomer
Paolo Testa, Robert W. Style, Jizhai Cui, Claire Donnelly, Elena V. Borisova, Peter M. Derlet, Eric R. Dufresne and Laura J. Heyderman
Advanced Materials, 4. Juni 2019
DOI: 10.1002/adma.201900561