Lange war er Pharma-Manager bei Roche, jetzt ist er Gründer eines Biotech-Unternehmens auf dem Gelände des Paul Scherrer Instituts PSI: Michael Hennig kennt die Trends der Medizinbranche. Im Interview erklärt er, warum die Medizin der Zukunft die Innovationskraft öffentlich geförderter Forschung braucht und warum er für sein Start-up leadXpro die Nähe zum PSI gewählt hat.
Heutige Medikamente haben extrem lange Entwicklungszeiten. Sie sind deshalb teuer und haben trotzdem oft noch starke Nebenwirkungen. Muss das so bleiben? Oder kann die Pharmaindustrie gegensteuern?
Es bleibt dabei, dass die Entwicklung wirklich innovativer Medikamente viel Forschung braucht, viele Experimente. Es braucht ein gutes Zusammenspiel zwischen Biologie, Chemie und innovativen Technologien, um neue Wirkstoffe zu entdecken, genau zu charakterisieren, und um dann die besten neuen Wirkstoffe für den Test an Patienten auszuwählen. Diese Tests, also die klinischen Studien, sind heute sehr umfassend: Sie müssen einer Vielzahl von Vorschriften und Gesetzen entsprechen, damit das heutige, extrem hohe Sicherheitsniveau erfüllt ist. Das braucht alles viel Zeit und sehr hohe Investitionen. Ich bin überzeugt, dass der Ansatz von leadXpro helfen kann, bessere, zielgerichtete Wirkstoffe zu entdecken und zu optimieren und damit Entwicklungszeiten und Nebenwirkungen zu reduzieren.
Was können Ihre neuen Ansätze leisten?
Unser 2015 gegründetes Unternehmen leadXpro verfolgt den Ansatz, strukturbasiertes Wirkstoffdesign für sogenannte Membranproteine zu verwirklichen: Wir suchen also Proteine aus, die im menschlichen Körper als wichtige Schaltstellen für Medikamente interessant sind. Schon heute wirken viele Medikamente, indem sie an diese Proteine binden und gezielt deren Aktivität verändern – zum Beispiel Psychopharmaka oder Betablocker. Diese Medikamente wurden noch entwickelt, ohne dass man die Struktur der Zielproteine genau kannte. Deswegen konnte man das Prinzip von einem Schlüssel, der perfekt in ein Schloss passt, nicht optimal ausnutzen. Unsere Fachkompetenz in der Strukturaufklärung von Membranproteinen erlaubt es uns bei leadXpro, genau das zu erreichen und Akzente zu setzen, indem wir auch neue, schwierige Membranproteine analysieren.
Und welche Krankheiten wollen Sie damit angehen?
Auf dem Gebiet der Onkologie haben wir uns vorgenommen, Krebs durch die Aktivierung des Immunsystems besser zu bekämpfen. Zum Zweiten wollen wir neue Antibiotika entwickeln. In den letzten 30 Jahren ist kein einziges Antibiotikum mit einem komplett neuen Wirkmechanismus auf den Markt gekommen. Es ging immer nur um die Optimierung bekannter Prinzipien. Das wollen wir ändern, denn gegen die bekannten Antibiotika haben sich schon viele Resistenzen gebildet, sodass diese immer öfter nicht mehr wirken. Wir arbeiten daher nun an antibiotikaresistenten Bakterien, die in Krankenhäusern ein immer grösseres Problem darstellen. Hierbei wollen wir neue Zielmoleküle nutzen, an denen moderne Medikamente angreifen könnten.
Werden diese neuen Wirkstoffe auch sicherer sein und weniger Nebenwirkungen haben?
Da wir die Struktur des Zielmoleküls genau kennen und analysieren, wie sich die Kombination von Zielmolekül und Wirkstoff verhält, können wir spezifischere Wirksubstanzen finden, die wirklich nur das anvisierte Zielmolekül angreifen. Der menschliche Körper ist ja sehr kompliziert und hat viele biologische Mechanismen, in die Medikamente zusätzlich eingreifen können – so entstehen Nebenwirkungen. Wenn aber der Schlüssel wirklich nur in ein Schloss passt und nicht noch in andere Schlösser, wird diese Gefahr geringer. Das ist auch der Grund für den Siegeszug der Antikörper: Sie können zwar nicht als Tablette genommen werden, weil sie vergleichsweise grosse Moleküle sind, wirken aber spezifischer als die kleinen Moleküle, die man als Tablette schlucken kann. Ich bin aber sicher, dass sich mit dem strukturbasierten Ansatz auch kleine Moleküle finden und optimieren lassen, die spezifischer sind und dadurch weniger Nebenwirkungen haben.
Welche anderen Trends sehen Sie?
Die Pharma-Industrie spezialisiert sich immer stärker. Ich vergleiche es gern mit der Auto-Industrie: VW und BMW montieren die Autos und verkaufen sie. Die Komponenten werden von Zulieferern produziert, und dort steckt die eigentliche Innovation. Einen ähnlichen Trend sehe ich in der Pharma-Industrie. Man fokussiert sich auf die klinische Forschung und das Marketing. Der frühe Bereich der Forschung, also die Wirkstoff-Entdeckung, wird immer öfter in Zusammenarbeit mit anderen Institutionen gemacht: Universitäten, Forschungszentren und kleinen Biotech-Firmen.
Warum? Gehen den grossen Pharma-Firmen die Ideen aus?
Nein. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass man in den grossen Pharmafirmen gute Forschung machen kann, vielleicht sogar die beste Forschung, weil man die ganze Bandbreite von Technologien und Expertenwissen zur Verfügung hat. Auf der anderen Seite ist das ein grosser Apparat. So können sich wirklich neue Ideen schwerer durchsetzen. In der Folge verliert man sich oft in Diskussionen, ehe man wirklich etwas macht. In Start-up-Firmen wie der unseren ist das Machen überlebenswichtig: lange Diskussionen und Entscheidungsprozesse können wir uns gar nicht leisten.
Welche Rolle spielt die Kooperation zwischen der Industrie und der öffentlichen Forschung generell für die pharmazeutische Forschung?
Die akademische Forschung ist wirklich stark in der Grundlagenforschung. Es werden grundlegende neue Erkenntnisse gewonnen und neue Methoden erarbeitet. Diese Neuerungen kann die Pharma-Industrie aufgreifen und anwenden. So kann die öffentliche Hand mit der Förderung der Grundlagenforschung einen Beitrag zur Medikamentenentwicklung leisten, der wiederum der Allgemeinheit zugutekommt.
Warum haben Sie sich dafür entschieden, Ihr Unternehmen direkt am Paul Scherrer Institut anzusiedeln?
Wichtig ist uns die Nähe zu den Grossforschungseinrichtungen wie dem Synchrotron SLS und dem Freie-Elektronen-Röntgenlaser SwissFEL. Strukturaufklärung ist heutzutage professionell nur machbar, wenn man Zugang zu solchen Einrichtungen hat. Aber auch die Nähe zum PSI-Forschungsbereich Biologie und Chemie von Gebhard Schertler ist für uns entscheidend. Dort arbeiten knapp 50 Wissenschaftler ausschliesslich mit Membranproteinen. Wir arbeiten eng zusammen und haben mittlerweile ein Reihe von Kollaborationen, die beiden Seiten zugutekommen. So werden wir neue Untersuchungsmethoden vorantreiben und dadurch schneller und effizienter zu neuen Strukturen kommen.
Welchen Vorteil bringt es einem forschenden Unternehmen wie dem Ihren, in der Schweiz niedergelassen zu sein?
Neben der Nähe zum PSI ist es die extrem gute Infrastruktur in der Schweiz sowie die rechtliche und sonstige Sicherheit. Ein wichtiger Aspekt ist für uns auch die Möglichkeit, international die besten Talente zu rekrutieren. Die Firmen in der Schweiz sind viel internationaler als etwa in Deutschland oder Frankreich. Ich bin immer wieder beeindruckt, wenn ich sehe, dass die Schweiz als Lebens- und Arbeitsort einen internationalen Spitzenplatz einnimmt, sodass von überall her die Besten kommen. Das war bei Roche so und das ist auch hier der Fall: So besteht unser leadXpro-Team schon jetzt aus Talenten, die aus vier verschiedenen Ländern stammen. Zusätzlich profitieren wir natürlich sehr von der exzellenten Ausbildung der Schweizer Universitäten.
Text: Judith Rauch
Hintergrund
Membranproteine sind ein Teil der äusseren Hülle von Zellen – der Membran. Membranproteine regeln den Austausch zwischen der Umgebung der Zelle und ihrem Inneren. Sie transportieren Stoffe oder Signale in die Zelle hinein oder geben diese vom Zellinneren nach aussen ab. Ein solches Signal kann zum Beispiel durch ein bestimmtes Hormon vermittelt werden, das von aussen an ein Membranprotein andockt und so das Protein dazu bringt, im Inneren der Zelle einen bestimmt Vorgang anzustossen. Dockt zum Beispiel ein Adrenalin-Molekül an das passende Membranprotein einer Herzmuskelzelle, veranlasst dies die Zelle zu stärkerer Aktivität, sodass schliesslich das Herz heftiger schlägt. Dabei passt jedes Hormon genau an eine bestimmte Art von Membranprotein – wie ein Schlüssel in ein Schloss. Auch viele medizinische Wirkstoffe docken an ausgesuchte Membranproteine an; diese Membranproteine sind also die Zielproteine der Medikamente. Oft wirken diese Medikamente, indem sie anstatt eines bestimmten Hormons an das Membranprotein andocken und so dem Hormon den Zugang verwehren oder die Funktion des Hormons übernehmen. So heften sich beispielsweise Betablocker an jene Membranproteine, an denen sonst Adrenalin andocken würde, und verhindern so die Wirkung des Adrenalins. Dadurch schlägt das Herz nach der Einnahme eines solchen Medikaments weniger heftig. Ist das Medikamentmolekül von der Form her nicht genau an das entsprechende Zielprotein angepasst, kann es auch an andere Proteine im Körper andocken, die eine ganz andere Funktion haben. Die dadurch ausgelösten, meist unerwünschten Veränderungen sind die Nebenwirkungen bei der Einnahme eines Medikaments. Deshalb ist eine sehr genaue, spezifische Bindung an nur ein Zielmolekül im Körper ein wesentlicher Bestandteil der Entdeckung und Optimierung von neuen Medikamenten.Zur Person
Prof. Dr. Michael Hennig, 53, stammt ursprünglich aus Berlin. Nach dem Studium der Physik und Biochemie promovierte er in Hamburg und am Universitätsspital Charité in Berlin als Strukturbiologe auf dem Gebiet der Röntgenstrukturanalyse von Proteinen. Bei Roche in Basel hat er mehr als 20 Jahre in der Wirkstoffentdeckung gearbeitet, zuletzt als Leiter eines 130 Personen starken, globalen Teams.Im Dezember 2015 gründete er gemeinsam mit ETH-Professor und PSI-Bereichsleiter Prof. Dr. Gebhard Schertler und dem ehemaligen wissenschaftlichen Leiter der SLS und SwissFEL-Projekte Dr. Rafael Abela in unmittelbarer Nachbarschaft des PSI das Biotech-Unternehmen leadXpro AG. Hennig und seine Mitarbeitenden arbeiten hier an neuen, massgeschneiderten Wirkstoffen für Medikamente mit dem Ziel, die Therapie von Krankheiten wie Krebs und Infektionskrankheiten wesentlich zu verbessern.