Die Quantenkünstler: Atome unter Druck
Zurab Guguchia setzt Materie zu – und erzeugt damit spannende Quantenphänomene, darunter Supraleitung bei leichter erreichbaren Temperaturen.
Materialwissenschaftler sind nicht gerade zimperlich. Sie spannen Materialien ein und drücken oder ziehen mit grosser Kraft, bis die Proben brechen oder zerspringen. In Zurab Guguchias Labor geht es nicht ganz so grob zu. Der Physiker am Zentrum für Neutronen- und Myonenforschung des PSI versucht nicht, etwas zu zerstören, sondern etwas Neues zu schaffen. Zum Beispiel exotische Substanzen, die Strom vollständig verlustfrei leiten, selbst bei hohen Temperaturen, oder die neuartige magnetische und elektronische Eigenschaften zeigen. Wenn seine Experimente erfolgreich sind, könnten sie nicht nur neue Erkenntnisse in der Quantenphysik liefern, sondern auch Türen zu praktischen Anwendungen öffnen – etwa zu energieeffizienten Stromnetzen oder Elektromotoren, die keine Seltene-Erden-Magnete benötigen. Diese Metalle sind nicht wirklich selten, ihr Abbau ist allerdings aufwendig und teuer.
Die Probe, die Guguchia gerade im Labor für Myonspin-Spektroskopie untersucht, ist für Laborbesucher nicht sichtbar. Das kleine Metallfragment ist in einem Röhrchen verborgen, eingetaucht in eine ölige Flüssigkeit, die sanften, allseitigen Druck ausübt. Während dieser hydrostatische Druck allmählich steigt, zeigen die Messgeräte überraschende Werte an. Plötzlich setzt Supraleitung ein: Elektrischer Strom fliesst ohne Widerstand – ausgelöst allein durch den Druck und ohne dass man die Probe extrem abkühlen müsste, wie es normalerweise bei Supraleitung Voraussetzung ist.
Mein Hauptinteresse gilt dem Verständnis der grundlegenden Mechanismen hinter ungewöhnlichen Quantenphänomenen.
Guguchia entdeckt fast jede Woche faszinierende Effekte in seinen Daten. Er publiziert regelmässig in renommierten wissenschaftlichen Zeitschriften, darunter 2022 einen Aufsatz in Nature – eine Auszeichnung für jeden Forscher. Im Gespräch deutet er an, dass bereits weitere Publikationen in Arbeit seien.
In seiner neuesten Studie geht es um ein Material mit einer geschichteten Struktur, ähnlich wie Blätterteig, wobei jede Schicht nur ein Atom dick ist. Wenn man die Probe auf die Labortheke legt, passiert nichts. Doch wenn man sie in einen beweglichen Rahmen einspannt und sanft zieht, dehnen sich die Schichten und rücken näher zusammen – ganz wie Teig beim Ausrollen. Oder man gibt die Probe in das ölgefüllte Röhrchen, dann wirkt der hydrostatische Druck gleichmässig von allen Seiten. Wenn alle Parameter stimmen, passiert etwas Magisches: Elektronen – negativ geladene Teilchen, die Atomkerne umkreisen – beginnen, die Elektronen in benachbarten Schichten zu spüren. Dadurch entstehen sogenannte Quantenphasen: Das Material verliert seinen elektrischen Widerstand und wird supraleitend, es wird magnetisch oder es entwickelt eine sogenannte Ladungsordnung, wo sich Ladungsträger in regelmässigen Mustern anordnen. In Quantenmaterialien koexistieren diese drei Ordnungen oft und interagieren auf komplexe Weise.
Manche Materialien sind wie Blätterteig aufgebaut – mit hauchdünnen Schichten, die nur aus einzelnen Lagen von Atomen bestehen. Presst man diese Schichten zusammen oder zieht man daran, entwickeln die Stoffe erstaunliche Eigenschaften: Strom fliesst ohne Widerstand; oder das Material wird magnetisch. Zurab Guguchia untersucht in seinen Experimenten Werkstoffe, deren Eigenschaften sich durch äussere Kräfte gezielt verändern lassen. © Studio HübnerBraun
Widerstreit der Quantenphasen
Die Physikerinnen und Physiker kennen viele verschiedene solcher Quantenphasen, die unterschiedliche Arten der Elektronenwechselwirkung hervorbringen. Wenn die Probe gedehnt oder gestaucht wird, kann sie auch Eigenschaften zeigen, die den erwarteten Ergebnissen widersprechen. Deshalb passt Guguchia die Kräfte in der Druck- oder Zugvorrichtung präzise an, um unerwünschte Phasen zu unterdrücken und erwünschte wie Supraleitung zu verstärken. Nur wenn die atomaren Schichten in eine ganz bestimmte Richtung verzerrt werden, tritt der erwünschte Effekt auf. Guguchia hat zum Beispiel entdeckt, dass eine Zugkraft die Supraleitungstemperatur in Cupraten – nobelpreisgekrönte Hochtemperatur-Supraleiter – um das Fünffache erhöht. Die Ergebnisse unterstreichen, welches Potenzial in dieser mechanischen Verzerrung liegt. Die Arbeit wurde in zwei hoch angesehenen Fachzeitschriften veröffentlicht.
Guguchias Vision: ein Material, das durch äussere Kräfte in verschiedene gewünschte Phasen geschaltet werden kann – oder sie sogar kontinuierlich moduliert. Das könnte eine Art Schalter sein, der von null Widerstand (supraleitend) zum normalen Widerstand eines Metalls wechselt. In Kombination mit anderen Materialien sind Produkte mit neuartigen technischen Eigenschaften denkbar – etwa Elektromotoren, die eben keine Seltene-Erden-Magnete benötigen.
Atomare Bambuskörbe
Guguchia führt seine Experimente mit hydrostatischem Druck und gerichtetem Zug weiter. In der wissenschaftlichen Gemeinschaft ist er jedoch weltweit für eine andere grosse Entdeckung bekannt – eine, die ihm Einladungen zu führenden internationalen Konferenzen eingebracht hat: Kagome. Eine Bildersuche im Internet zeigt unter diesem Begriff traditionell geflochtene Körbe aus Bambus in Japan. In der Quantenwelt gibt es atomare Gitter, die dieses Muster nachbilden: Sechsecke, umgeben von Dreiecken an jeder Kante, die wiederum mit anderen Sechsecken verbunden sind – in einer sich endlos wiederholenden Struktur.
Kagome ist ein traditionelles japanisches Korbgeflecht. Das charakteristische Kagome-Muster aus Drei- und Sechsecken findet sich aber auch in der Anordnung der Atome, die Zurab Guguchia untersucht. Er setzte sein Kagome-Gitter unter Druck und erlangte Supraleitung bei einer höheren Temperatur als je zuvor in solchen Systemen erreicht worden war. Zugleich trat eine ungewöhnliche Form von Magnetismus auf. Guguchia sucht Wege, solche Effekte eines Tages sogar bei Zimmertemperatur oder darüber hinaus zu erreichen. © Studio HübnerBraun
Wissenschaftler vermuten schon lange, dass flache, zweidimensionale atomare Gitter Ladungsordnung aufweisen können. Sie entstehen aus dem kollektiven Verhalten der Elektronen, mit spontanen Strömen, ohne äussere Anregung. Guguchia war der Erste, der dies experimentell im Labor entdeckt hat, in einem Kagome-Gitter aus Kalium-, Vanadium- und Antimonatomen. Der Durchbruch gelang dank der leistungsstarken Myonenquelle SμS am PSI. Ein Myon – ein elektrisch geladenes Elementarteilchen, 200-mal schwerer als ein Elektron – dient im Experiment als hochsensibles mikroskopisches Messinstrument. Es wird in das Kagome-Gitter implantiert und bei seinem Zerfall beobachtet. Das liefert Informationen über das lokale Magnetfeld und damit über die spontanen Ströme, die in dem Ring aus sechs Atomen fliessen.
Während man typischerweise ein geeignetes Material auf rund minus 240 Grad Celsius abkühlen muss, damit es supraleitend wird, tritt im Kagome-Gitter dieser Effekt bereits bei etwa minus 190 Grad Celsius auf – eine Temperatur, bei der eine Kühlung mit relativ günstigem flüssigem Stickstoff möglich ist. Forschende vermuten auch, dass solche spontanen Ströme in Cupraten existieren könnten – jenen Hochtemperatur-Supraleitern, deren Entdeckung 1987 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet wurde. Die Hoffnung wächst, dass die Anwendung der Kagome-Architektur auf diese Materialien ihre kritische Temperatur noch weiter steigern könnte.
Gesucht: Supraleiter bei Zimmertemperatur
Diese Hoffnung hat sich in den letzten Monaten verstärkt. Guguchia entdeckte kürzlich die Ladungsordnung in einem Kagome-Gitter bei Temperaturen bis zu 527 Grad Celsius – eine Erkenntnis, die in der renommierten Zeitschrift Advanced Materials veröffentlicht wurde. Während Supraleitung im selben Material typischerweise bei niedrigen Temperaturen auftritt, zeigten Guguchias Druckexperimente, dass sie nicht den konventionellen Regeln folgt. Dies wirft eine zentrale Frage auf: Könnte man die Ladungsordnung bei hohen Temperaturen unterdrücken? Und würde das einen Zustand nahe Raumtemperatur freilegen, in dem Strom ohne Widerstand und ohne Kühlung fliesst?
Als Grundlagenforscher bleibt Guguchia bescheiden: «Dieses Quantensystem ist sehr vielversprechend.» Aber die Implikationen sind kühn: Ein Raumtemperatur-Supraleiter würde die Energielandschaft revolutionieren: 40 Prozent des weltweiten Energieverbrauchs liesse sich einsparen mit Leitungen ohne elektrischen Widerstand.
«Mein Hauptinteresse gilt dem Verständnis der grundlegenden Mechanismen hinter ungewöhnlichen Quantenphänomenen und wie man diese optimiert», sagt Zurab Guguchia. «Das PSI mit seiner einzigartigen Kombination aus Grossforschungsanlagen und starken theoretischen sowie rechnergestützten Arbeitsgruppen ist die ideale Umgebung, um theoretische und angewandte Forschung zu vereinen.»