Neue Massstäbe in der Kernphysik

Ein internationales Forschungsteam unter Leitung des Paul Scherrer Instituts PSI hat den Radius des Kerns von myonischem Helium-3 mit bislang unerreichter Präzision vermessen. Die Ergebnisse sind ein wichtiger Stresstest für Theorien und künftige Experimente in der Atomphysik. 

PSI-Forschende haben den Ladungsradius von Helium-3 mithilfe von myonischem Helium erstmals mit bislang unerreichter Präzision vermessen – ein Meilenstein für die Theorie leichter Atomkerne. Das Bild illustriert den Helium-3-Kern mit zwei Protonen (rot) und einem Neutron (gelb). © Adobe Stock

1,97007 Femtometer (billiardstel Meter): So unvorstellbar winzig ist der Radius des Atomkerns von Helium-3. Zu diesem Ergebnis kommt ein Experiment am PSI, das nun im Fachmagazin Science veröffentlicht wurde. Mehr als 40 Forschende aus internationalen Instituten haben dafür eine Methode entwickelt und ausgeführt, die Messungen mit bisher nicht erreichter Präzision ermöglicht. Das setzt neue Massstäbe für Theorien und weitere Experimente in der Atom- und Kernphysik. 

Das anspruchsvolle Experiment ist nur mithilfe der Protonenbeschleunigeranlage des PSI möglich. Dort erzeugt das Team von Aldo Antognini sogenanntes myonisches Helium-3, bei dem die beiden Elektronen des Helium-Atoms durch ein Elementarteilchen namens Myon ersetzt werden. Das erlaubt die hochpräzise Ermittlung des Kernradius. Mit der Vermessung von Helium-3 sind die Experimente zu leichten myonischen Atomen nun vorerst abgeschlossen. Zuvor hatten die Forschenden bereits myonisches Helium-4 vermessen sowie vor einigen Jahren bereits den Atomkern von myonischem Wasserstoff und Deuterium. 

Myonisches Helium-3: Doppelt abgespeckt

Helium-3 ist der leichtere Cousin von Helium-4, also des üblichen Heliums. Dessen Atomkern hat zwei Protonen und zwei Neutronen (daher die 4 hinter dem Elementkürzel), in Helium-3 fehlt eines der Neutronen. Gerade die Einfachheit dieses abgespeckten Atomkerns ist sehr interessant für Physiker wie Aldo Antognini. Dem Helium-3, das der PSI-Physiker und Professor an der ETH Zürich in dem aktuellen Experiment nutzt, fehlt nicht nur ein Neutron im Kern, sondern auch beide Elektronen, die diesen Kern umkreisen. Die Physiker ersetzen die Elektronen durch ein negativ geladenes Myon – daher die Bezeichnung myonisches Helium-3. Das Myon ist rund 200-mal schwerer und rückt dem Kern eng auf die Pelle. Kern und Myon „spüren“ sich dadurch viel intensiver, die Wellenfunktionen überlappen sich stärker, wie man in der Physik sagt. Damit wird das Myon zur perfekten Sonde zur Vermessung des Kerns und seines Ladungsradius. Dieser gibt an, über welchen Bereich sich die positive Ladung des Kerns verteilt. Ideal für die Forschenden: Dieser Ladungsradius des Kerns ändert sich nicht, wenn die Elektronen durch ein Myon ersetzt werden. 

PSI-Physiker Aldo Antognini freut sich über ein weiteres grundlegendes Ergebnis seiner Forschung in der Atomphysik, das er mit seinem Team und innerhalb einer internationalen Kooperation erzielt hat. © Scanderbeg Sauer Photography

Antognini hat einige Erfahrung in der Vermessung von myonischen Atomen. Vor einigen Jahren hat er das gleiche Experiment mit myonischem Wasserstoff durchgeführt, der nur ein Proton im Kern enthält und dessen eines Elektron ebenfalls durch ein negativ geladenes Myon ersetzt wurde. Die Ergebnisse sorgten damals für einige Aufregung, weil die Abweichung zu anderen Messmethoden überraschend gross ausfiel, manche Kritiker hielten sie sogar für falsch. Inzwischen hat sich vielfach bestätigt: Die Resultate waren korrekt. 

Weltweit einmalige Anlage macht Experimente möglich 

Dieses Mal wird Antognini weniger Überzeugungsarbeit leisten müssen. Zum einen hat er sich als der führende Experte auf diesem Forschungsgebiet etabliert. Zum anderen blieb die grosse Überraschung diesmal aus. Die aktuellen Resultate von myonischem Helium-3 passen gut zu denen aus früheren Experimenten mit anderen Methoden. Allerdings sind die Messungen des PSI-Teams etwa 15-fach präziser. 

Die wichtigste Zutat für das Experiment sind negativ geladene Myonen, und zwar sehr viele davon. Diese müssen allerdings eine sehr niedrige Energie aufweisen, also sehr langsam sein, zumindest nach den Massstäben der Teilchenphysik. Etwa 500 Myonen pro Sekunde mit Energien von einem Kiloelektronenvolt können am PSI erzeugt werden. Damit ist die Protonenbeschleuniger-Anlage des PSI mit der selbst entwickelten Strahllinie die einzige weltweit, die derart langsame negative Myonen in so grosser Zahl liefern kann. 

Laser in Eigenkonstruktion entscheidend für Erfolg

Entscheidenden Anteil am Erfolg hat auch das Lasersystem, das die Forschenden selbst entwickelt haben. Dort besteht die Herausforderung darin, dass der Laser sofort feuern muss, wenn ein Myon heranfliegt. Dazu installieren Antognini und sein Team vor die luftleere Experimentierkammer eine hauchdünne Detektorfolie. Die erkennt, wenn ein Myon die Folie passiert, und gibt dem Laser das Signal, sofort einen Lichtpuls mit voller Leistung abzugeben. Den Ladungsradius bestimmen die Forschenden dabei indirekt, indem sie die Frequenz des Laserlichts messen. Wenn die Laserfrequenz genau mit der Resonanz eines bestimmten atomaren Übergangs übereinstimmt, wird das Myon kurzzeitig in einen höheren Energiezustand versetzt, bevor es innerhalb von Pikosekunden in den Grundzustand zurückfällt; in diesem Moment sendet es ein Photon in Form von Röntgenlicht aus. Die Resonanzfrequenz zu finden, bei der dieser Übergang passiert, braucht viel Geduld, liefert aber einen äusserst genauen Wert für den Ladungsradius des Kerns. 

Für die Bestimmung des Ladungsradius von myonischem Helium-3 nutzt PSI-Forscher Aldo Antognini eine Methode, die er bereits beim Proton erfolgreich angewandt hat. Dieses Video erklärt das physikalische Prinzip hinter den hochpräzisen Messungen am Beispiel des Protonenradius. © Paul Scherrer Institut PSI/Benjamin A. Senn und Mahir Dzambegovic

Neuer Massstab für theoretische Modelle

Die aus myonischem Helium-3 und Helium-4 gewonnenen Ladungsradien dienen als wichtige Referenzwerte für moderne ab-initio-Theorien – also physikalische Modelle, die Eigenschaften komplexer Systeme direkt aus den Grundgesetzen der Physik berechnen, ohne auf experimentelle Daten zurückzugreifen. Im Fall der Kernphysik ermöglichen sie detaillierte Einblicke in die Struktur leichter Atomkerne und die Kräfte zwischen ihren Bausteinen, den Protonen und Neutronen.

Die genaue Kenntnis der Kernradien ist zudem entscheidend für den Vergleich mit laufenden Experimenten an herkömmlichen Helium-Ionen mit einem Elektron sowie an neutralen Helium-Atomen mit zwei Elektronen. Solche Vergleiche liefern strenge Tests für die Quantenelektrodynamik (QED) in Wenigteilchensystemen – jener grundlegenden Theorie, die beschreibt, wie geladene Teilchen durch den Austausch von Photonen miteinander wechselwirken. Sie ermöglichen es Forschenden, die Vorhersagekraft unseres fundamentalsten Verständnisses der atomaren Struktur zu überprüfen. Dabei könnten sich entweder neue Erkenntnisse zur QED für gebundene Systemen ergeben – also in Systemen wie Atomen, in denen Teilchen nicht frei, sondern durch Kräfte aneinandergebunden sind – oder vielleicht sogar Hinweise auf physikalische Effekte jenseits des Standardmodells der Teilchenphysik.

An Folgeexperimenten arbeiten Forschungsgruppen in Amsterdam, Garching und China sowie in der Schweiz die Gruppe für Molekularphysik und Spektroskopie von Frédéric Merkt an der ETH Zürich. 

Aber auch Antognini hat bereits weitere Ideen für Experimente, um die Theorien der Atomphysik und der Kernphysik noch präziser zu testen. Eine Idee ist die Vermessung des Hyperfeinsplittings in myonischen Atomen. Das sind Energieübergänge zwischen aufgesplitteten Energieniveaus, die tiefere Details über die Effekte im Atomkern enthüllen, die mit dem Spin und dem Magnetismus zu tun haben. Derzeit läuft die Vorbereitung eines Experiments mit myonischem Wasserstoff, ein Experiment mit myonischem Helium ist geplant. «Viele, die sich mit Kernphysik beschäftigen, sind daran sehr interessiert und warten ungeduldig auf unsere Ergebnisse», so Antognini. Aber die Energiedichte des Lasers muss für diese neuen Experimente erheblich gesteigert werden, was einen enormen Fortschritt in der Lasertechnologie erfordert. Diese Entwicklung läuft zurzeit am PSI und an der ETH Zürich.

Prof. Dr. Aldo Antognini
Center for Neutron and Muon Sciences
Paul Scherrer Institut PSI 

+41 56 310 46 14
aldo.atognini@psi.ch

The helion charge radius from laser spectroscopy of muonic helium-3 ions
Karsten Schuhmann et al.

Science, 22.05.2025
DOI: 10.1126/science.adj2610

Über das PSI

Das Paul Scherrer Institut PSI entwickelt, baut und betreibt grosse und komplexe Forschungsanlagen und stellt sie der nationalen und internationalen Forschungsgemeinde zur Verfügung. Eigene Forschungsschwerpunkte sind Zukunftstechnologien, Energie und Klima, Health Innovation und Grundlagen der Natur. Die Ausbildung von jungen Menschen ist ein zentrales Anliegen des PSI. Deshalb sind etwa ein Viertel unserer Mitarbeitenden Postdoktorierende, Doktorierende oder Lernende. Insgesamt beschäftigt das PSI 2300 Mitarbeitende, das damit das grösste Forschungsinstitut der Schweiz ist. Das Jahresbudget beträgt rund CHF 460 Mio. Das PSI ist Teil des ETH-Bereichs, dem auch die ETH Zürich und die ETH Lausanne angehören sowie die Forschungsinstitute Eawag, Empa und WSL. (Stand 06/2024)