Die Quantenkünstler: Zeitbremse und Ionenfallen

Cornelius Hempel berechnet Quantenphänomene mit Quanten. Klingt logisch, ist aber hochkomplex. Sein neuester Coup: ein Quantensimulator, der die Zeit verlangsamt.

© Studio HübnerBraun

Wie schön wäre es, wenn man die Zeit bremsen könnte. Beim Blick in den Spiegel käme nicht jeden Morgen eine neue Falte dazu; und der schöne Urlaub liesse sich etwas verlängern. Cornelius Hempel hat relativ wenige Falten im Gesicht. Das liegt wohl daran, dass der Physiker vom Zentrum für Photonenforschung 44 Jahre jung ist; und nicht an der Maschine, die sein Team in einem fensterlosen Labor aufgebaut hat – ein scheinbar chaotischer Wirrwarr aus Kabeln, Linsen und Lasern. Und doch: Sie verlangsamt die Zeit – zumindest in komplexen Berechnungen. Es ist ein Quantencomputer auf Basis einer Ionenfalle und Hempel nutzt ihn, um ultraschnelle chemische Reaktionen in Zeitlupe zu simulieren. Falten im Gesicht verhindert er damit nicht. 

Eigentlich sei sein Quantensimulator eine Atomuhr, betont Cornelius Hempel. Beide arbeiten mit Ionen, also elektrisch geladenen Atomen, die in einer Falle gefangen und deren Elektronen mithilfe von Lasern zum Schwingen gebracht werden, ähnlich wie das Pendel einer alten Uhr. Die ersten Atomuhren wurden in den 1950er-Jahren gebaut und mit Mikrowellen betrieben. Sie bilden weiterhin die Grundlage unserer Zeitmessung und definieren mit ihrer Schwingung die Sekunde – rund 9,1 Millionen Schwingungen entsprechen einer Sekunde. Dies schaffen sie mit einer Genauigkeit von 16 Nachkommastellen, sodass sie in 100 Millionen Jahren etwa eine Sekunde falsch gehen. Heutige Modelle auf Ionenbasis sind tausendmal genauer. «Nichts anderes kann man genauer messen als die Zeit», so Hempel. 

Hempel nutzt die Atomuhr als sogenannten Quantensimulator. Das ist ein Quantensystem, das ein anderes Quantensystem – häufig einen Festkörper oder eine Flüssigkeit – kontrollierbar nachbildet. Das Verhalten von Quanten berechne man am besten mit Quantencomputern – das hatte Physiknobelpreisträger Richard Feynman schon 1982 vorgeschlagen. Lange lag Feynmans Konzept in der Schublade. Erst in den 1990er-Jahren wurde die Idee weiterverfolgt, bis dann 1995 der erste Prototyp eines Quantencomputers auf Basis einer Atomuhr mit Ionen gezeigt wurde.

Atomkerne mit natürlicher Vibration 

In den letzten zehn Jahren haben Quantencomputer so grosse Fortschritte gemacht, dass sie sich nun bestens als Quantensimulatoren eignen. Damit bekommen Physiker ein neues und leistungsfähiges Werkzeug an die Hand, mit dem sich das Verhalten von Molekülen, also Gruppen von verschiedenen Atomen, bis in die quantenphysikalischen Details berechnen lässt. Selbst die schnellsten Supercomputer müssen hier oft passen. Damit Forschende mit diesen immerhin ein halbwegs sinnvolles Ergebnis erhalten, tun sie bisher so, als wären die Atomkerne wie eingefroren; der Supercomputer berechnet dann nur, wie sich die Elektronen um die Kerne bewegen. Doch das ist realitätsfern. «Die Atomkerne vibrieren und das sollten sie auch in der Simulation tun», sagt Hempel. Ein Quantensimulator mit Ionen ist hierfür vielversprechend, da diese ganz natürlich in ihrer Falle vibrieren. 

Der Nachteil eines Quantensimulators: Er erreicht nicht das ultraschnelle Tempo der Phänomene in der Welt der Moleküle und Atome. Seine Geschwindigkeit entspricht nur der des zugrunde liegenden Quantensystems. Hier kommt die «Zeitbremse» ins Spiel. Sie nutzt ein mathematisches Modell, das mit dem zu simulierenden System übereinstimmt, um das Verhalten der Ionen im Experiment zu beschreiben – jedoch mit einem Zeitstreckungsfaktor von 100 Milliarden. Tatsächlich verlangsamt Hempel so nicht das Quantensystem selbst, sondern nur sein Abbild im mathematischen Modell.

Freiner le temps
Extrêmement petits et rapides, les noyaux atomiques vibrent à une échelle de 10 milliardièmes de milliardième de seconde. D’autres processus, fort nombreux dans le monde des atomes et des molécules, se déroulent également à une vitesse folle, ce qui rend difficile leur observation en laboratoire. Comme solution à ce problème, Cornelius Hempel a construit un simulateur qui imite d’autres systèmes quantiques et qui contient un «mécanisme» mathématique pour étirer le temps. Il peut ainsi étudier au ralenti des processus ultrarapides. © Studio HübnerBraun

Blitzschnelle Information im Auge 

Ultraschnelle chemische Reaktionen treten an den verschiedensten Stellen in der Natur auf. Sie verhindern, dass wir ständig Sonnenbrand bekommen, indem im Erbgut der Zellen einfallendes UV-Licht in Wärme umgewandelt wird, bevor Schäden entstehen. Auch in der Netzhaut unserer Augen spielen sich sehr schnelle chemische Reaktionen ab. Das Molekül Retinal übersetzt einfallendes Licht in Information, die der Sehnerv dann ans Gehirn leitet. Trifft ein Lichtteilchen – ein sogenanntes Photon – auf, reckt sich das gekrümmte Molekül blitzschnell in die Länge, wodurch der Sehnerv angeregt wird. Am Freie-Elektronen-Röntgenlaser SwissFEL untersuchen andere PSI-Forschungsgruppen diesen Prozess experimentell. Das Retinal schaltet innerhalb von nur rund 400 Femtosekunden, also knapp ein halbes Billionstel einer Sekunde. In Hempels Quantensimulator läuft die Berechnung dagegen in gemütlichen Millisekunden ab. Das hat den Vorteil, dass der Forscher genau studieren kann, was bei der Verformung des Moleküls passiert und wie die Atome zusammenarbeiten. Ein Quantensimulator arbeitet meist analog; ein Quantencomputer dagegen digital. Die Qubits des Quantencomputers kennen die binären Zustände 0 und 1, mit denen klassische Computer arbeiten – mit einem Unterschied: Qubits können beide Zustände gleichzeitig in unterschiedlichen Anteilen einnehmen. Das potenziert ihre Rechenleistung für bestimmte Aufgaben ins Unermessliche.

Fulgurant rétinal
Le rétinal est une molécule située dans la rétine. Exposé à la lumière, il change de forme et un signal est envoyé au cerveau. Cela ne dure qu’un demi-milliardième de seconde. Cornelius Hempel reproduit ce processus à l’aide de son simulateur quantique. La résolution temporelle extrêmement précise qu’il obtient complète les recherches expérimentales d’autres scientifiques du PSI. © Studio HübnerBraun

Digitales Futter für analoge Quantencomputer 

Was wäre, wenn man Quantensimulator und -computer kombinieren könnte, also den analogen und den digitalen Modus? Das ergäbe einen Quantensimulator, den man mit digitalen Informationen füttern könnte. Das Beste aus beiden Welten haben Andreas Elben und Andreas Läuchli vom Zentrum für Computergestützte Wissenschaften, Theorie und Daten des PSI in einer bahnbrechenden Veröffentlichung in Nature, einem der renommiertesten wissenschaftlichen Fachmagazine, vereint. Sie haben zusammen mit Forschenden von Google und Universitäten in fünf Ländern gezeigt, wie man mit nur 69 Qubits eines Quantencomputers von Google quantendynamische Prozesse wie die Wärmeausbreitung in einer Flüssigkeit berechnen kann, etwa wenn man in einer chemischen Reaktion zwei Stoffe mit unterschiedlicher Temperatur mischt. 

Das Konzept ebnet den Weg zum universellen Quantensimulator und soll in den verschiedensten Teilgebieten der Physik zum Einsatz kommen. Auch die Ionenfallen von Cornelius Hempel eignen sich für einen universellen Quantensimulator.

Träge Spatzen auf der Stromleitung

Hempel hat einige Dutzend Ionen in einer Kammer angeordnet. Sie sitzen wie Spatzen auf einer Stromleitung. Er muss sie von aussen mit Laserlicht zum Rechnen animieren – kein Problem bei dieser Anzahl. Möchte man zukünftig jedoch Millionen Qubits auf einem Chip haben, müssen die Laser auf dem Chip integriert werden und sich einzeln an- und ausschalten lassen – integrierte Photonik heisst das Stichwort. Das gibt es heute schon in Datenzentren, doch diese integrierten Laser sind erstens zu gross und leuchten zweitens mit Wellenlängen im tiefen Infrarotbereich; Quantencomputer brauchen sichtbares Licht. «Deshalb entwickeln wir diese Technologien am PSI selbst», sagt Cornelius Hempel. Vielleicht entstehen daraus eines Tages Hybridprozessoren, auf denen Atome und Laser eines Quantencomputers mit herkömmlicher Siliziumelektronik vereint sind. 

Noch sind diese Technologien ein Stück entfernt von einer kommerziellen Anwendung. Es gibt weitere Gruppen am PSI, die daran arbeiten, diese Lücke zu schliessen; darunter Kirsten Moselund und ihr Team im Labor für Nano- und Quanten-Technologien am Zentrum für Photonenforschung des PSI. 

Und schon heute profitieren viele Industrien von den Entwicklungen, die rund um Quantencomputer entstehen, etwa Elektronik, Messtechnik oder Photonik. «Sehr viel Forschung am PSI beschäftigt sich mit Phänomenen, die wir sehr gerne bis auf die Ebene der Quantenphysik verstehen würden», betont Cornelius Hempel. «Und Quantenphänomene stecken in vielen aktuellen und künftigen Produkten, zu denen unsere Arbeit dann einen entscheidenden Beitrag leisten kann.»