Von einer Bestrahlung mit Protonen gegen Krebs profitieren besonders die ganz jungen Patientinnen und Patienten. Gut, dass sich das Zentrum für Protonentherapie am PSI in den letzten zwei Jahrzehnten auf diesem Gebiet beträchtliche Erfahrung an geeignet hat: Seine Kompetenz ist bei den Kinderkrebskliniken schweizweit gefragt.
Der sechsjährige Junge auf der Patientenliege schläft tief und fest. Ein steifes Netz aus Kunststoff in Form seines Kopfes verhindert, dass er sich im Schlaf bewegen kann. Der drehbare Bestrahlungsapparat, Gantry genannt, ist bereits auf den Kopf des Jungen ausgerichtet. Die PSI-Radiologiefachperson überprüft ein letztes Mal, ob das Kind richtig liegt, und verlässt den Raum. Vom Kontrollraum nebenan startet sie den Protonenstrahl.
Aus dem Bestrahlungskopf der Gantry tritt nun ein Strahl gebündelter Protonen aus und rastert millimetergenau den Tumor im Gehirn des kleinen Patienten ab. Die energiereichen Teilchen zerstören die Erbsubstanz in den Krebszellen, sodass diese absterben. Das funktioniert nach dem gleichen Prinzip wie bei der klassischen Strahlentherapie im Spital, bei der Röntgenstrahlen zum Einsatz kommen. Protonen haben gegenüber Röntgenstrahlen aber einen entscheidenden Vorteil: Sie geben bei der Bestrahlung den grössten Teil ihrer Energie in einem sehr schmalen Bereich im Körper ab, sprich im Tumor selber − dort bleiben sie quasi stecken. Dadurch wird das gesunde Gewebe, das vor und hinter dem Tumor liegt, geschont, sprich weniger geschädigt als bei einer klassischen Strahlentherapie.
Ganz besonders krebskranke Kinder profitieren von einer Protonentherapie, erklärt Damien Weber, Chefarzt und Leiter des Zentrums für Protonentherapie am PSI. «Kinder wachsen noch, und wenn gesunde Zellen in der Nähe des Tumors bei der Strahlentherapie geschädigt werden, können sie bei jeder zukünftigen Zellteilung diese Schäden an immer mehr Zellen weitergeben.» Ausserdem ist bei einem kleinen Körper schlichtweg die Wahrscheinlichkeit, dass sich in der Nähe des Tumors eine kritische Struktur wie die Wirbelsäule oder das Gehirn befindet, sehr viel höher als bei dem grösseren Körper eines Erwachsenen.
Kinder haben somit ein höheres Risiko, dass eine Krebsbestrahlung bei ihnen Langzeitschäden verursacht, mit denen sie ihr ganzes weiteres Leben zu kämpfen haben: von Tumoren, die erst durch die Bestrahlung entstehen, über Hörverluste und Beeinträchtigungen im Wachstum bis hin zu Lernschwächen. «Wenn ein Kind in der Schweiz eine gezielte Radiotherapie gegen Krebs benötigt, ist die sehr präzise Protonentherapie daher fast immer die Bestrahlungsmethode der Wahl», sagt Damien Weber.
Eine Erfolgsgeschichte
Seit 1999 behandelt das Zentrum für Protonentherapie krebskranke Kinder und Jugendliche. 2004 wurde erstmals ein Kleinkind unter Narkose bestrahlt: Es war knapp über zwei Jahre alt und litt an einem Weichteiltumor in der Augenhöhle. Anders als bei Erwachsenen braucht es bei solchen sehr kleinen Patientinnen und Patienten eine Anästhesie. «Gerade eine präzise Bestrahlung wie die Protonentherapie ist sinnlos, wenn die Person sich während der Behandlung bewegt», erklärt Damien Weber. «Für kleine Kinder ist es aber extrem schwierig, während der gesamten Bestrahlungszeit still zu halten.» Eine leichte Narkose sorgt dafür, dass die Kinder schlafen und somit ruhig liegen, während der tumorzerstörende Protonenstrahl seine Arbeit verrichtet. Insgesamt werden ungefähr die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen bis zum Alter von 18 Jahren unter Anästhesie bestrahlt.
Seit 2004 besteht eine enge Kooperation zwischen dem Zentrum für Protonentherapie (ZPT) und der Abteilung für Anästhesie am Universitäts-Kinderspital Zürich. Die Zusammenarbeit garantiert, dass jeden Tag ein Oberarzt oder eine Oberärztin sowie eine Anästhesie-Pflegekraft des Kinderspitals am PSI sind: Sie leiten die Narkose ein, überwachen den Zustand der kleinen Patientinnen und Patienten, wechseln Verbände und kümmern sich generell um die bestmögliche Versorgung.
«Wir nehmen uns viel Zeit für die Kinder», sagt Ilka Schmidt-Deubig, leitende Ärztin Anästhesie am Kinderspital Zürich. «Sie sollen bei uns keine Spitalatmosphäre vorfinden.» Daher bestellt das Team die Eltern mit dem Kind auch immer mindestens eine halbe Stunde vor der Bestrahlung ein, damit sie vorher im extra dafür eingerichteten Spielzimmer erst mal in Ruhe ankommen können. «Selbst traumatisierte Kinder haben nach ein bis zwei Wochen Vertrauen zu uns gefasst.»
Bei Start der Krebsbehandlung bekommen die Kinder eine Schnur mit ihrem Vornamen aus bunten Buchstabenperlen. «Im Laufe der Bestrahlungstherapie kommen immer weitere Perlen hinzu, die Mutperlen», erklärt Ilka Schmidt-Deubig. Etwa wenn der Portkatheter angestochen wird, über den die Anästhesistin Medikamente einleitet. Eine Therapieperle vor der Bestrahlung. Eine Nüchternperle, weil das Kind vor der Narkose nichts essen und trinken darf – nicht immer einfach, wenn man Hunger oder Durst hat.
Jedes Jahr werden sechzig bis siebzig Kinder und Jugendliche am PSI behandelt; insgesamt waren es bis heute über achthundert. Die Mehrheit aller jungen Patientinnen und Patienten leiden an Tumoren des Gehirns und des Rückenmarks; am zweithäufigsten sind Sarkome, das sind Krebserkrankungen, die von Binde-, Stütz- oder Muskelgewebe ausgehen.
Schweizweites Kompetenzzentrum
«Die Krebsbehandlung bei Kindern, die während der Bestrahlung eine Narkose benötigen, erfordert mehr Planung», sagt Katrin Scheinemann, Leiterin Pädiatrische Hämatologie und Onkologie am Ostschweizer Kinderspital in St. Gallen. «Umso froher sind wir, dass wir in der Schweiz mit dem PSI ein Bestrahlungszentrum mit so viel Erfahrung haben. Verglichen mit anderen Ländern haben wir fast eines der ältesten Protonenzentren überhaupt, eben auch mit einem Fokus auf die Bestrahlung von Kindern.»
Katrin Scheinemann ist Präsidentin der Schweizerischen Pädiatrischen Onkologie-Gruppe (SPOG), einem Netzwerk aller neun Zentren in der Schweiz mit einer Abteilung für Kinderonkologie. Dazu gehören neben dem Ostschweizer Kinderspital in St. Gallen die Universitätsspitäler in Bern, Basel, Zürich, Lausanne und Genf sowie die Kinderspitäler in Luzern, Aarau und Bellinzona. Als gemeinnützige Non-Profit-Organisation koordiniert und verantwortet die SPOG klinische Studien und Forschungsprogramme zu Krebs bei Kindern und Jugendlichen in der Schweiz.
Dabei ist eines sichergestellt: Kinder und Jugendliche werden immer nach den Richtlinien internationaler Protokolle behandelt. «Demnach ist es egal, an welches der neun Zentren die Eltern mit ihren Kindern zur Behandlung gehen – sie bekommen überall die gleiche und somit die qualitativ hochwertigste Therapie.»
Das PSI behandelt rund siebzig Prozent aller Kinder in der Schweiz, die eine gezielte Radiotherapie benötigen. Damit ist das ZPT im Land mittlerweile das grösste Bestrahlungszentrum für Kinder.
Hoffnungsreiche Aussichten
Der sechsjährige Junge hat die Bestrahlung erfolgreich hinter sich gebracht; etwa zwanzig Minuten lang wurde der Tumor in seinem Gehirn mit energie-reichen Protonen abgerastert. Die Radiologiefachperson entfernt die Gesichtsmaske und bringt den Kleinen, der noch immer schläft, in den Aufwachraum; dort warten bereits seine Eltern. Hier kann er sich in Ruhe erholen und wieder ganz wach werden.
Am nächsten Tag folgt die nächste Bestrahlungssitzung: insgesamt sechs Wochen lang, Montag bis Freitag. Keine einfache Zeit für die Kinder und ihre Eltern. Aber es gibt Hoffnung: Die Heilungschancen für Krebs bei Kindern haben sich in den letzten Jahrzehnten wesentlich verbessert. Laut Schweizer Kinderkrebsregister betrug die Zehn-Jahres-Überlebensrate in der Schweiz bei Kindern, die im Zeitraum von 1989 bis 1998 diagnostiziert wurden, 76 Prozent – zwanzig Jahre später, zwischen 2009 und 2018, waren es schon 85 Prozent. Es ist zu erwarten, dass sich diese Zahlen für den nächsten 10-Jahres-Zeitraum noch einmal verbessern. Und dazu leistet sicherlich auch die Behandlung am ZPT des PSI einen Beitrag.
Text: Brigitte Osterath
Wegweisende Studien
Neben pädiatrischen Studien, an denen das PSI beteiligt ist, nimmt das PSI an klinischen Studien zur Krebsbehandlung bei Erwachsenen teil. Aktuell werden Teilnehmende für die europäische klinische Studie PROTECT gesucht, an der das PSI gemeinsam mit der Klinik für Radio-Onkologie am Universitätsspital Zürich arbeitet. PROTECT vergleicht Nebenwirkungen herkömmlicher Strahlentherapie mit jenen der Protonentherapie bei der Bestrahlung von Speiseröhrenkrebs. Liefert die klinische Studie einen Beweis dafür, dass Protonentherapie auch bei dieser Krebsart Vorteile bringt, könnten Erkrankte routinemässig am PSI behandelt werden. Speiseröhrenkrebs käme dauerhaft auf die Indikationsliste des Bundesamts für Gesundheit und Krankenversicherungen übernähmen die Kosten für die Protonentherapie